Wintersemester 2019/20

TU Dresden

Institut für Soziologie

 

 

Seminar

'Mütterlichkeit', 'Wehrhaftigkeit' und Arbeit am 'Volkskörper': Rechte Geschlechterideologien und kapitalistische Reproduktionskrisen

Dr. Tino Heim

 

Zeit: Donnerstag, 6. DS

Beginn: 17.10.2019

Ort: FAL 232

 

Kurzbeschreibung

Die sächsische Landtagswahl 2019 hat eine Partei zur zweitstärksten Kraft gemacht, die u.a. fordert, den „Erhalt des Staatsvolks“ als „Staatsziel ins Grundgesetz aufzunehmen“, wozu u.a. ein „Bundesministerium für Familie und Bevölkerungsentwicklung" einzurichten sei, "das die Bevölkerungsentwicklung nach streng wissenschaftlichen Kriterien koordiniert“. Zudem gelten in der programmatischen „Einheit von Familien- und Migrationspolitik“ eine selektive Erhöhung der autochthonen Geburtenraten (v.a. bei Akademiker*innen) und die Begrenzung der Migration, u.a. durch Abwehr des „Familiennachzug in unsere Sozialsysteme“, als zwei Seiten desselben Kampfes um „Selbsterhaltung, nicht Selbstvernichtung unseres Staates und Volkes“.

Ultrakonservative bis reaktionäre geschlechter- und familienpolitische Leitbilder und komplementäre heterosexistische Angst- und Feindbilder (‚Genderwahn‘, ‚Homolobby‘, ‚Verschwulung‘, ‚Frühsexualisierung unserer Kinder‘ etc.) sind hier mehr als nur belächelbare Skurrilitäten. Im Rahmen eines völkisch-eugenischen Gesamtprogramms, in dem eine „aktivierende Familienpolitik“ als „Maßstab für alle mit ihr verbundenen Politikfelder“ fungiert, bilden Heterosexismus und Antifeminismus in enger Kopplung mit (neo-)rassistischen, nationalistischen und eugenischen Ideologielementen vielmehr einen archimedischen Punkt, von dem aus die AfD alle weiteren gesellschaftlichen Problemlagen zu kurrieren verspricht. Dafür wird eine ‚soldatische Männlichkeit‘ beschworen, die ihren komplementär vereinseitigten ‚Gegenpol‘ in einer ‚kosmischen Kraft der Mütterlichkeit‘ finden soll. Das Verschmelzen dieser ‚natürlichen Polarität von Mann und Frau‘ in der Familie als ‚Keimzelle der Gesellschaft‘, soll dann eine Erneuerung und Optimierung der Kräfte des ‚Volkskörpers‘ bewirken. Diese Leitbilder reaktivieren Geschlechterideologien, die zwar im Nationalsozialismus ihre bisher konsequenteste Ausformulierung fanden, die aber weit darüber hinaus seit dem 19. Jahrhunder in den grundlegenden Arrangaments reproduktiver Arbeitsteilung und in den ihnen entsprechenden geschlechterpolitischen Diskursen und Kollektivsymboliken fest verankert sind. So überrascht es nicht, dass gerade die geschlechter- und familienpolitischen Positionen der AfD auf breiten Zuspruch in der ‚gesellschaftlichen Mitte‘ treffen und deutliche Schnittmengen mit anderen parteipolitischen Lagern erkennen lassen.

Das Seminar fragt nach grundlegenden Formen und konkreten Ausprägungen entsprechender Geschlechterideologien, nach ihren diskursiven und gesellschaftsstrukturellen Hintergründen und nach den Bedingungen ihrer politischen Anschlussfähigkeit.

Den Ausgangspunkt bildet eine Übung in kritischer Diskursanalyse: Anhand exemplarischer Dokumente sollen dabei systematische Inhaltskerne, Narrative und Kollektivsymboliken neurechter Geschlechterideologien herausgearbeitet werden. Programmtexte der AfD werden auf strukturelle Schnittmengen und Gemeinsamkeiten mit dem antifeministischen Manifest des rechtsterroristischen Massenmörders Anders B. Breivik sowie mit konservativen Positionen aus dem Umfeld der CDU (z.B. der ‚Werteunion‘ oder der ‚Christdemokraten für das Leben‘) hin gelesen. In einem zweiten Teil werden (in Auseinandersetzung mit klassischen Analysen zum Problemfeld) Genealogien entsprechender Diskurse und Kollektivsymboliken seit dem 19. Jahrhundert nachgezeichnet, um im dritten Teil des Seminars die Frage zu stellen, auf welche konkreten Krisen der Reprodukionsarbeit und der modernen Geschlechterverhältnisse rechte Geschlechterideologien reagieren und welche Hintergründe diese Reprpoduktionskrisen in weiteren kapitalistischen Krisendynamiken haben. Eine grundlegende These ist es dabei, dass sich rechte Geschlechterideologien und die ihnen zugrundeliegenden Krisenzusammenhänge nicht durch moralisierende Lippenbekenntnisse zu emanzipatorischen Idealen und zur ‚political correctness‘ überwinden lassen. Erfordert wäre stattdessen eine grundlegende politische und institutionelle Neuordnung der Verteilung und Anerkennung reproduktiver Arbeiten, die den rechtspopulistischen Scheinlösungen den Nährboden entzieht und andere Formen der Gestaltung von Subjektivitäten und Beziehungen (jenseits der einseitigen Dominanz einer heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit) ermöglicht. Den Abschluss des Seminars bildet daher die Frage nach den potentiellen Formen und den konkreten Möglichkeitsbedingungen entsprechender gesellschaftspolitischer Alternativen.