Sommersemester 2020

TU Dresden

Institut für Soziologie

 

 

Seminar

Soziologie und Utopie

Dr. Tino Heim

 

Zeit: Donnerstag 6. DS

Beginn: 23.04.2020

Aufgrund der bestehenden Ausnahmeregelungen und Einschränkungen mit Bezug auf das Coronavirus findet das Seminar in einer Mischung aus schriftlichen Text-, Lektüre- und Reflexionsaufgaben, die im Home-Studium bearbeitet werden, und Teilpräsenzveranstaltungen zur vertiefenden Diskussion statt.  

Die drei Teilpräsenztermine schließen jeweils einen Themenblock ab und bieten eine Möglichkeit, die bearbeitete Literatur übergreifend zu diskutieren.

Do 28.5.: Utopie und Gesellschaftstheorie – Klassische Positionen: Zwischen ‚Bilderverboten‘ und Sondierungen historischer Möglichkeitsräume

Do. 25.6.: Soziologie und Utopie – Positionsbestimmungen in der Gegenwartsgesellschaft

Do. 15.7.: Pfade nach und durch Utopia? Die Gegenwart der Utopien und mögliche ‚Keimformen‘ für ‚andere Gesellschaften‘

Näheres entnehmen sie Bitte dem Ablaufplan.

Ort: FAL 232

 

Kurzbeschreibung

„Es ist an der Zeit, die alte Alternative zwischen Utopismus und Soziologismus hinter sich zu lassen und soziologisch begründete Utopien zu präsentieren. Dafür müsste es den Sozialwissenschaften gelingen, gemeinsam die Zensur zu sprengen, die sie sich im Namen einer verkürzten Vorstellung von Wissenschaft auferlegen zu müssen glauben.“

Dies forderte im Jahr 2000 ausgerechnet Pierre Bourdieu, also ein Soziologe, dem oft unterstellt wurde, einen ausweglosen Determinismus der endlosen Reproduktion gesellschaftlicher Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse zu schildern und der insofern gemeinhin als gerades Gegenteil eines ‚Utopisten‘ gelten dürfte. Das ist einer von vielen Hinweisen darauf, dass das Verhältnis von Soziologie und Utopie deutlich widersprüchlicher und ambivalenter ist, als es eine schlichte Entgegensetzung von nüchterner wissenschaftlicher Analyse und utopischen Träumereien erwarten lässt. Schon der junge Marx hatte sich einerseits in Abgrenzung von frühsozialistischen Gesellschaftsentwürfen ein striktes Utopieverbot auferlegt. Andererseits schrieb gerade der ‚reife‘, mit wissenschaftlichem Anspruch auftretende Kritiker der politischen Ökonomie:  „[W]enn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden, wären alle Sprengversuche Donquichoterie.“ Dabei sollte es gerade eine Aufgabe der kritischen Wissenschaft sein, in den bestehenden Formen der Vergesellschaftung auch die Möglichkeitsbedingungen und konkrete Ansatzpunkte für gänzlich andere – innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsformation utopisch erscheinende – Formen der Vergesellschaftung nachzuweisen.

Das Seminar stellt ein Angebot für eine offene Erkundungsreise im entsprechenden Spannungsfeld von Soziologie und Utopie dar. Dabei sollen einerseits klassische theoretische Reflexionen auf das Verhältnis von Wissenschaft und Utopie und Versuche der Konzeption einer ‚wissenschaftlichen Utopistik‘ diskutiert werden. Andererseits wollen wir in einem zweiten Teil ausgewählte klassische und jüngere Utopien auf ihre Gehalte, Relevanzen und blinden Flecken hin diskutieren. Dabei werden auch Fragen nach den Ursachen, Funktionen und Effekten der weitgehenden Ausschaltung der utopischen Dimensionen und Momente des sozialwissenschaftlichen Denkens in der akademisch zugerichteten Soziologie aufgeworfen: Welche Verarmungen impliziert der Utopieverlust für die theoretische und analytische Prägnanz oder auch für die gesellschaftliche Relevanz der Soziologie? Und was bedeutet es eigentlich für die ‚Zukunftsfähigkeit‘ einer Gesellschaftsformation, wenn angesichts global eskalierender ökonomischer, sozialer, geopolitischer und ökologischer Krisendynamiken schon die Frage nach prinzipiellen gesellschaftlichen Alternativen als Unmöglichkeit erscheint?