Antike und europäische Literatur I u. II: Literatur und Bildung
Kaum ein Wort beherrscht die aktuelle gesellschaftspolitische Diskussion so sehr wie das der Bildung. Welche Vorstellungen sind damit jedoch konkret verbunden? Meint Bildung vorrangig die Aneignung bestimmter kanonisierter Wissensbestände oder umfasst der Begriff auch Lebens-, Erfahrungs- und Handlungswissen, möglicherweise sogar Formen des ‚Nichtwissens’? Wie lässt sich Bildung in ihrem Verhältnis zu Wissen, Wissenschaft und Erkenntnis näher bestimmen, wie in ihrem Verhältnis zu Ethik und Ästhetik? Was bedeutet Bildung für den einzelnen Menschen und für die Gesellschaft im Ganzen? – Ausgehend von der gegenwärtigen Situation unserer Wissensgesellschaft möchte die Vorlesung historisch relevante Bildungskonzepte vorstellen, dabei aber vor allem Fragen nach Formen und Funktionen literarischer und ästhetischer Bildung in ihren kulturgeschichtlichen Metamorphosen nachgehen. Ein erster Längsschnitt wird sich mit dem antiken Bildungsideal und dessen ‚Renaissancen’ in der frühen Neuzeit und der Weimarer Klassik beschäftigen, ferner mit den ästhetischen Implikationen und Transformationen theologisch und mystisch orientierter Bildungsvorstellungen. In einem zweiten Abschnitt werden überwiegend Bildungs- und Erziehungsprogramme vorgestellt werden, die eine Ablösung des humanistischen Bildungsideals zugunsten eines naturwissenschaftlich-technologischen fordern, wobei in diesem Zusammenhang der sogenannten ‚Zwei-Kulturen-Debatte’ und ihren manifesten Auswirkungen auf die Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts besondere Aufmerksamkeit zukommt. Beide Sektionen werden jeweils von ausführlichen Einzelinterpretationen einschlägiger literarischer Werke u.a. von Montaigne, Wieland, Goethe, Schiller, Flaubert, Zola, Musil, Joyce, Brecht, Enzensberger untermauert. Im Rückblick auf die historischen Sektionen wird sich der dritte Abschnitt schließlich Fragen nach dem Aktualitätswert ‚bildender Kunst’, nach den Besonderheiten ästhetischer Bildung und nicht zuletzt nach dem Bildungspotential einer Literatur und Dichtung widmen, die kritisch, ironisch oder parodistisch gegen konventionelle Bildungsvorstellungen ‚anschreibt’ und stattdessen das ‚Lob der Torheit’, der Schelmen und Narren beschwört.