Der ‚poetische Augenblick‘: Zu einem literarischen Modell der Jahrhundertwende

TU Chemnitz | Sommersemester 2024 Der ‚poetische Augenblick‘: Zu einem literarischen Modell der Jahrhundertwende

Verweile doch, du bist so schön! , lautet jene literarische Formel, die Goethe als Gegenfigur des faustischen Strebens beschwört und die geradezu einen poetischen Prototypen der Literatur- und insbesondere der Lyrikgeschichte seit Petrarca beschreibt. In der Moderne um 1900, die der Autor des Chandos-Briefs als "Ameisengewühl der Kontingenz" charakterisiert, erfährt die ursprünglich theologische Vorstellung von einer Augenblicks- und Momenterfahrung, in der die Gegensätze der empirischen Welt aufgehoben erscheinen, eine - nun freilich ins Ästhetische gewendete - Renaissance: Die Epiphanie, der "mythische Augenblick", der "eternal moment", avanciert zum sinn-, sprach- erkenntnis- und kommunikationsstiftenden Gegenmodell einer von Entfremdung, Absurdität, Nihilismus, Sprach- und Erkenntnisskeptizismus geprägten Welterfahrung. Die vielfältigen Paraphrasierungen des ‚poetischen Augenblicks‘ – man denke etwa James Joyce' Definition der epiphany als eine sudden spiritual manifestation [...] of the commonest object, an Hugo von Hofmannsthals sympathetisches "Alles war in mir", das jenen mythischen Moment beschreibt, in dem das Alltägliche zum "Gefäß meiner Offenbarung" wird oder an Henry James' "shock of recognition", in dem ein bagatelles Zeichen urplötzlich die Wirklichkeit in ihrem Wesen erschließt - deuten primär auf eine spezifisch ästhetische Wahrnehmungs- und Erkenntnisweise hin, die sich in ihrem ganzheitlichen Anspruch auf Sinntotalität als notwendiges Korrelat der Verstandeseinsicht begreift. Damit ist bereits angedeutet, dass Konzeptionen des ‚poetischen Augenblicks‘ kein naives Unterfangen etwa im Sinne einer illusionären Wiederbelebung des Goldenen Zeitalters darstellen, sondern literarische Denk- und Sprachmodelle sind, die auf die Dichotomien und Spannungen der Zeit reagieren.

 

Das Seminar wird sich - nach einer historischen Einführung in die theologischen, philosophischen und literarischen Traditionskontexte - mit Konzeptionen des ‚poetischen Augenblicks‘ und deren sprachlicher Gestaltung in der Kurzprosa und Lyrik der Jahrhundertwende beschäftigen. 

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