Hauptseminar: Kant Transzendentale Dialektik II
Hauptseminar: Kant Transzendentale Dialektik II
Im Wintersemester wird das Hauptseminar des vergangenen Sommersemesters zu Kants „Transzendentaler Dialektik“ fortgeführt werden. Wir befassen uns mit dem Antinomienkapitel der „Kritik der reinen Vernunft“. Eine Antinomie bedeutet nach Kant generell die fälschliche Annahme einer alternativen (vollständigen) Zweierdisjunktion von sich wechselseitig ausschließenden Möglichkeiten (bzw. komplementären Teilbegriffen) unter einem übergeordneten Speciesbegriff (bzw. einer Prämisse), die verbunden mit der Voraussetzung gedacht wird, dass nur eine dieser beiden Möglichkeiten zuträfe und diese eine zutreffende Möglichkeit auch prädiziert werden müsse. Unter dieser Voraussetzung kann man anscheinend die notwendig zutreffende Möglichkeit durch Widerlegung der alternativen „Komplementärmöglichkeit“ beweisen. Dumm nur, dass sich bei einer Antinomie beide Alternativen widerlegen lassen. Eine Auflösung der Antinomie muss nach Kant deshalb zeigen, dass in Wirklichkeit nicht nur zwei Möglichkeiten bestehen, sondern eine weitere dritte. Hans Wagner erläutert dies am Beispiel der ersten Antinomie Kants vorzüglich (Philosophie und Reflexion. Gesammelte Schriften, Bd. 1, hrsg. von Bernward Grünewald, Paderborn 2013, 122 f.). Dabei gilt es im Sinne Wagners, genau folgende argumentative Reihenfolge zu beachten: Zuerst die Entwicklung der formalen dialektisch-di(h)airetischen Alternativstruktur der Antinomie, dann erst deren inhaltliche Interpretation. Andernfalls argumentierte Kant zirkulär. Die Antinomie besitzt bei Kant deshalb eine (begriffs)-logische Seite einerseits und eine inhaltlich-erkenntnistheoretische Seite andererseits, wobei die begriffslogische den Rahmen der möglichen inhaltlichen Auflösungen der Antinomie definiert (Vgl. Wagner, a. a. O.).
Besonders die dritte „Freiheitsantinomie“ hat eine gewichtige systematische Bedeutung und ist in der Kant nachfolgenden Geschichte der Philosophie immer wieder Gegenstand von hitzigen Diskussionen geworden. In der dritten Antinomie besteht die „Dialektik“ nun zwischen folgenden Alternativen: Entweder könne eine Kausalkette in der Welt von einer nicht wieder äußerlich bewirkten Ursache ‚neu und von selbst‘ (z. B. B 560 f. u. B 568 f.) initiiert werden – oder aber in der Welt sei keine ‚prima causa‘ einer Ereignisreihe möglich, sondern alle Ursachen seien selbst wiederum Wirkungen anderer Ursachen. Nach dem antinomischen Schema erweisen sich beide Alternativen als scheinbar falsch, weil je für sich widerlegbar. Die Unlösbarkeit des Problems ergibt sich allerdings nur dann, wenn man die dialektische Alternative zwischen einerseits erster Ursache und andererseits unendlicher Kausalkette ausschließlich unter dem Begriff der bestimmten Ursache fasst. Genau dies tut aber der dogmatische Metaphysiker, wenn er „Erstursachen“ in der Erfahrungswelt im menschlichen Wollen zu identifizieren vermeint, Erstursachen, aus denen Kausalketten „neu und von selbst entstehen“, welche letzteren eindeutig und bestimmt aus ihren Erstursachen (Willensakte Handlungen) abgeleitet werden können sollen. Dieser dogmatische Anspruch verhindert nach Kant, dass eine dritte „rettende Möglichkeit“ in Betracht gezogen werden kann. Es gilt nämlich im Sinne der „dialektischen Begriffseinteilung“, dass der Begriff der bestimmten Ursache dem der unbestimmten Ursache gegenübersteht, da beide Begriffe alternative „Einteilungen“ eines beiden übergeordneten höheren Begriffes sind, unter dem sie stehen. Nennen wir diesen einmal – hoffentlich widerspricht Kant nicht – Typus der Ursache. Ganz offenkundig kann nämlich der Begriff einer bestimmten und mithin bestimmbaren Ursache (Kausalbestimmtheit der Ursache) nur dann ein sinnvoller und verständlicher Begriff sein, wenn er seinem komplementären Begriffsmoment, nämlich dem der unbestimmten und mithin unbestimmbaren Ursache (Kausalunbestimmtheit der Ursache), gegenübersteht. Dies ist zunächst ein rein begriffslogisch-formaler Befund. Denn die dem Begriff der Ursache beigefügte speziellere Charakterisierung „bestimmt“ ist im Sinne der traditionellen formalen Begriffsdi(h)airesis nur dann sinnvoll zu verwenden und kann eine Ursache erweiternd kennzeichnen, wenn man auch den Gegenbegriff einer unbestimmten Ursache zur Verfügung hat. Ohne sein begriffliches Gegenstück der unbestimmten (unbestimmbaren) Ursache wäre der Begriff einer bestimmten (bestimmbaren) Ursache im wahrsten Sinne des Wortes nichtssagend und könnte „bestenfalls“ tautologisch sein. (Vgl. hierzu Wagner, a. a. O.) Der Begriff der Kausalunbestimmtheit steht also sozusagen bezogen auf eine ‚höhere gattungslogische Ebene‘ (= Begriff des Typus der Ursache) dem der Kausalbestimmtheit als Alternative gegenüber und indiziert damit begriffslogisch die übersehene dritte Möglichkeit im ‚Kausalspiel‘. Je nachdem, ob man die Frage nach Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer ersten Ursache der Kausalkette der Welt bezogen auf den Begriff der Bestimmtheit der Ursache oder bezogen auf den der Unbestimmtheit der Ursache stellt, kann sich ein anderes Resultat ergeben. Bezogen auf den Begriff der bestimmten Ursache kann es keine erste Ursache geben – bezogen auf den Begriff der unbestimmten Ursache kann eine Erstursache vereinbar gedacht werden mit einer kausalen „Erscheinungsreihe“, in der selbst jede Ursache wieder von einer weiteren Ursache bestimmt wird. Dies heißt nach Kant allerdings zunächst (!) auf gar keinen Fall, dass durch Einführung des Komplementärbegriffes der unbestimmten Ursache die Möglichkeit einer Erstursache „theoretisch“ bewiesen wäre. Dennoch ermöglicht dieser Begriff die formale Auflösung der Antinomie. Unter dem einen der komplementären Unterbegriffe des Typus der Kausalität, dem der Bestimmtheit der Ursache nämlich, der wegen seines Anschauungsbezuges zugleich objektive Realität besitzt, kann es keine Ursache einer empirischen Ereignisreihe in der Sinnenwelt geben, die nicht selbst wieder als Wirkung kausal verursacht ist. Es gibt somit unter dem Teilbegriff der Kausalbestimmtheit (Bestimmtheit der Ursache) keine Erstursache, welche zugleich Teil der Erfahrungswelt ist. Da im Sinne logisch-di(h)airetischer Begriffsanalyse formal der Begriff der Bestimmtheit der Ursache der Erfahrungsereignisreihe dem Begriff der Unbestimmtheit der Ursache der Erfahrungsereignisreihe korreliert ist, ist man nach Kant an dieser Stelle allerdings berechtigt, die Unterscheidung zwischen „Erscheinung“ und „Intelligibilität“ als inhaltliche Erklärung zu strapazieren. (Diese Distinktion darf jedoch nach Kant – wie schon gesagt – keinesfalls den Ausgangspunkt der „Auflösung“ bilden!) Es sei nämlich unter dem Teilbegriff der unbestimmten Ursache widerspruchsfrei, in Kants Terminologie gewendet, logisch möglich, dass eine erste intelligible Ursache, die selbst nicht Teil der Erfahrungskette sei, dennoch Wirkungen in der Erscheinungswelt initiiere. Mangels möglichen Anschauungsbezuges besitze jedoch der Begriff einer (freien) intelligiblen Erstursache über seine logische Möglichkeit hinaus keine objektive Realität. Damit komme diesem nur logisch möglichen Begriff mit Blick (!) auf die kausale Ereignisreihe der Sinnenwelt keine objektive Realität zu, und er sei mit Blick auf diese kausale Erscheinungskette der Erfahrung über seine ‚logisch-dihairetische Begriffsbestimmtheit‘ hinaus ein nicht weiter bestimmbarer, somit unbestimmter Begriff einer Ursache, der deshalb keinerlei bestimmten und erkennbaren Bezug zur (empirischen) Anschauung, bzw. „sinnlichen Welt“ aufweise. Ein mit Blick (!) auf die kausale Ereignisreihe der Sinnenwelt unbestimmbarer Begriff einer intelligiblen Kausalität sei allerdings kraft seiner ‚logischen‘ Denkmöglichkeit gleichwohl widerspruchsfrei vereinbar mit dem objektiv gültigen Begriff einer empirischen Kausalkette, innerhalb derer es keine Ursache geben könne, die nicht wieder Wirkung einer weiteren „sinnlichen“ Ursache sei. Allerdings bleibe es im Rahmen der theoretischen Philosophie völlig unklar, ob eine solche intelligible Erstursache wirklich statthabe oder gar nur „realmöglich“ sei. Dieser Aufweis fällt bei Kant in die praktische Philosophie und wird erst in dieser gerechtfertigt und begründet (siehe Faktum der Vernunft). Erst das „Sittengesetz“ vermag nach Kant die im Rahmen der theoretischen Philosophie (3. Antinomie) unbestimmte intelligible Ursache als „intelligibles Selbst“ zu bestimmen. Das ändert aber nichts daran, dass die Auflösung der dritten Antinomie in der KRV DIE „fundamentale Conditio sine qua non“ der Moralphilosophie Kants darstellt.
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