Medium Literatur: kontext:fremd
Haben Sie schon einmal ein hermetisches Gedicht gelesen, das einfach keinen Sinn ergeben hat? Es könnte ein schlechtes Gedicht gewesen sein. Haben Sie schon einmal eine Kun-Oper geschaut und sie hörte sich einfach nur schrecklich an – ganz zu schweigen davon, dass sie unzusammenhängend und viel zu lang war? Es war womöglich eine schlechte Aufführung. Hat Ihnen ein Kind schon einmal eine Geschichte erzählen wollen, die so überhaupt nirgendwo hingeführt hat? Kinder sind wahrscheinlich einfach schlechte Erzähler·innen. Was ist das schon gegen das Hufgetrappel-Metrum in »Willkommen und Abschied«, die fulminante Spannungsaufladung am Ende des 1. Aufzugs der »Zauberflöte«, oder die famose Erzählung vom Katastrophen-Roadtrip der Reisefanatikerin Ihres Vertrauens – inklusive Foto-Show?
Im Seminar wollen wir uns der Frage zuwenden, wie das Medium (Literatur) und seine Kontexte, die an ihm beteiligten Rollen im Kommunikationsprozess, unsere Verstehenshaltung und unser »Horizont« sowie die gegenseitigen Ansprüche von Subjekt und Objekt zueinander in Beziehung stehen: Vielleicht ist das Gedicht gar nicht so schlecht, bloß weil‘s dabei nicht rührig im Herzen wird; vielleicht muss man die spezifische Funktionsweise von Kunqu begreifen, um seine Aufführung zu genießen; vielleicht sind Kinder unter der Bedingung einer unterstützend-involvierten Erzählsituation die grandiosesten Dichter.
Ziel des Seminars ist eine grundlegend-beispielhafte und problembewusste Befähigung zur kritischen Analyse und zum theoretisch informierten Verstehen im Umgang mit literarischen/ästhetischen Ausdrucksformen, die betont »kontext-fremd« sind, Ihrem eigenen Lebenskontext und Weltzugang also nicht ohne weiteres zur Verfügung stehen. Die Seminarleistung ist gemäß der für Sie gültigen Studienordnung zu erbringen; äquivalente Alternativleistungen sind nach vorheriger Absprache möglich.