Wie geflüchtete ukrainische Studierende durch ein digital gestütztes Sprachlernangebot unterstützt werden
Mit Beginn des Kriegs in der Ukraine sahen sich unsere Digital Fellows Irmgard Wanner, Stellvertretende Direktorin des Sprachenzentrums der Universität Leipzig und Prof. Dr. Grit Mehlhorn, Inhaberin der Professur Didaktik der slawischen Sprachen vor die Herausforderung gestellt, einer Vielzahl von geflüchteten Studierenden, die aus der Ukraine an die Universität Leipzig gekommen waren, ein Angebot zum Erlernen der deutschen Sprache zu machen. Die Lösung sahen sie in der Erweiterung eines am Sprachenzentrum bereits etablierten Ansatzes des Tandem-Lernens. Mit dem Tool Mahara setzten sie dabei auf eine digitale Erweiterung des Tandems, in der Lehramts-Studierende im Fach Russisch und geflüchtete ukrainische Studierende ein Tandem-Portfolio führen sollten. Begleitet wurden die Studierenden von Dr. Dina Sorour, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sprachenzentrum. Welche Ziele und Erfolge sie mit dieser Lösung erreichen konnten, erzählt sie im Interview.
Wie sollen die Studierenden mit dem Tandem-Portfolio arbeiten??
Dr. Sorour: Zunächst werden Tandem-Paare gebildet. Danach erhalten die Studierenden eine Einführung in die Grundlagen des Sprachenlernens im Tandem, in die Gestaltung von Tandem-Treffen und in die Portfolioarbeit. Insgesamt sollen Studierende während des Semesters acht Tandem-Treffen durchführen und diese jeweils in Form eines Portfolioeintrags dokumentieren. Während die Lehramtsstudierenden im Fach Russisch konkrete Themen aus ihrem Sprachkurs auswählen und in den Treffen bearbeiten sollten, wurde für die geflüchteten ukrainischen Studierenden ein Konzept entwickelt, in dem Studierende an ihren individuellen studienbezogenen Lernzielen arbeiten können. Das Konzept basiert auf dem Modul “Sprachenlernen im Tandem” des Sprachenzentrums. Die individuelle Anpassungsoption des Portfolios ist insofern notwendig, weil die geflüchteten Studierenden aus verschiedenen Fachrichtungen und Studiengängen und mit zum Teil recht unterschiedlichen Sprachniveaus kommen. Die Studierenden im Lehramt Russisch verwenden ihre Tandem-Treffen im Rahmen ihrer Studienmodule.
Im Tandem-Portfolio bearbeiten die geflüchteten Studierenden dann Schritt für Schritt Aufgaben und werden dabei von einer Lernberaterin unterstützt. In mehreren individuellen Lernberatungen entwickeln die Studierenden und die Lernberaterin auf der Basis einer Selbstevaluation gemeinsam konkrete sprach- und studienbezogene Lernziele, die sie mit Hilfe der Tandem-Treffen erreichen möchten. In den Lernberatungen werden auch mögliche Lernstrategien thematisiert, die zum Erreichen der Lernziele führen. Darüber hinaus soll die Identifizierung einer bestimmten Lernstrategie bei der Vorbereitung der einzelnen Tandem-Treffen helfen, von diesen in vollem Umfang zu profitieren. Die Lernberatung und ihre Ergebnisse werden im Portfolio dokumentiert. So wird bereits diese Anfangsphase auch später nachvollziehbar.
Anschließend beginnen die Studierenden mit der inhaltlichen Planung der einzelnen Treffen. Diese dokumentieren sie im Anschluss an die Tandem-Treffen anhand von Leitfragen in ihrem digitalen Portfolio. Jeder Dokumentation folgt eine schriftliche Reflexionsphase, in der die Studierenden ihre Treffen evaluieren.
Das digitale Format macht das Vorgehen und die Auswertung der Lernaktivitäten nicht nur für die Studierenden, sondern auch für die Lernberaterin nachvollziehbar. So kann die Lernberaterin zeitnah Feedback geben, etwa Hinweise zu alternativen Vorgehensweisen oder zu Lernmaterialien.
Nach den ersten vier Treffen findet eine Zwischenbilanz statt, in der die Studierenden sowohl im digitalen Portfolio als auch im Rahmen einer individuellen Lernberatung über ihre Lernaktivitäten und erreichten Ziele reflektieren und darauf basierend die nächsten vier Treffen planen. Zum Abschluss stellen die Studierenden ihre Lernprozesse im Tandem mit einer kurzen Präsentation vor und werten ihre Ergebnisse aus.
Wie schätzen Sie die Unterstützung des Spracherwerbs durch die Methoden ein?
Dr. Sorour: Mit einigen der ukrainischen Teilnehmenden, die parallel zu den Tandem-Treffen auch Sprachkurse besucht haben, haben wir Interviews durchgeführt. Die Studierenden bestätigten, dass sowohl sie selbst als auch ihre Dozierenden eine wesentliche Verbesserung im mündlichen Ausdruck und eine Erweiterung ihres Wortschatzes bemerkt haben. Zudem betonten die geflüchteten Studierenden, dass das Lernen im Tandem ihnen geholfen habe, die “Sprach- bzw. Sprechbarriere” zu brechen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich beim Lernen im Tandem beide Tandem-Partner:innen in der gleichen Situation befinden: Beide bearbeiten gemeinsame Portfolioaufgaben, beide sind abwechselnd Sprachexperte/-expertin und Sprachlerner:in, die Kommunikation findet auf Augenhöhe statt.
Die flexiblen zeitlichen und räumlichen Optionen für die Tandem-Treffen tragen außerdem dazu bei, eventuelle Sprechängste zu verringern. Dies wurde vor allem im Vergleich zur üblichen Unterrichtssituation genannt. Gleichzeitig sind die Lernenden in dieser “Eins zu eins”-Situation aufgefordert, von Anfang bis zum Ende mit “vollem Einsatz” aktiv zu sein, denn es gibt nur den/die Tandem-Partner:in und keine weiteren Mitstudierenden, die während der Kommunikation evtl. einspringen könnten.
Die Kombination von Vor- und Nachbereitung des Tandem-Treffens und der fremdsprachlichen Dokumentation im Portfolio fördert eine intensive Auseinandersetzung mit der gelernten Sprache. Hinzu kommt die individuelle Zielsetzung, die den Lernenden ermöglicht, an ihren eigenen Problemstellen zu arbeiten und das Lernen nach ihren Bedürfnissen zu gestalten. Dadurch erhöht sich die Motivation deutlich.
Schließlich ist das Lernen im Tandem für die ukrainischen Studierenden nicht nur unter dem sprachlichen Aspekt gewinnbringend. Mindestens ebenso wertvoll war es für sie, dadurch soziale Kontakte zu Mitstudierenden zu entwickeln. Dies wieder führte zu einem besseren Verständnis von Studieninhalten und hochschulspezifischer Kommunikation.
Mit welchem Betreuungsaufwand sind die Tandem-Portfolios für Sie als Lehrende verbunden?
Dr. Sorour: Vor allem am Anfang ist der Betreuungsaufwand sehr hoch, da jede:r Studierende individuell betreut wird. Nach dem ersten gemeinsamen Workshop bespricht jede:r Studierende mit ihrer/seiner Lernberaterin die individuellen Lernziele, die Selbstevaluation, mögliche Lernstrategien und Lernmaterialien für die vereinbarten Sprach-Fachziele. In der Regel werden 3-4 individuelle Lernberatungen durchgeführt. Zudem gibt die Lernberaterin Feedback zu den Portfolioeinträgen.
Es hat sich gezeigt, dass sowohl Lernberatungen als auch das spezifische Feedback zu Portfolioeinträgen von den Studierenden als äußerst relevant eingeschätzt wird. Dies konnten wir vielfach beobachten und haben dazu konkrete mündliche wie schriftliche Rückmeldungen von den Lernenden selbst erhalten.
Der Betreuungsaufwand sollte jedenfalls nicht unterschätzt werden. In Anbetracht der leider immer noch hohen Zahlen internationaler Studierender, die ihr Studium in Sachsen nicht beenden, lohnt sich nach unseren Erfahrungen der Aufwand durch einen hohen “return on investment” jedoch.
Inwiefern lässt sich dieses Konzept auch in anderen Veranstaltungen, ggf. auch in anderen Fächern realisieren?
Dr. Sorour: Das Konzept lässt sich sowohl für sprachpraktische Veranstaltungen in einer Vielzahl philologischer wie auch regionalwissenschaftlicher Studienrichtungen als auch für fachspezifische Tandems einsetzen. Denkbar wäre etwa ein interdisziplinärer Studiengang oder ein fachübergreifendes Modul, in dem sich Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen in einer Tandem-Konstellation gegenseitig unterstützen. Eine dritte Möglichkeit wäre die Kombination aus einer Person mit vordringlich sprachenbezogenen Lernzielen und einer anderen Person mit eher fachbezogenen oder auf eine geplante Mobilität ausgerichteten Zielen.
Voraussetzung für das Gelingen solcher Lernpartnerschaften ist ein ausgewogenes Verhältnis zwischen beiden Tandem-Partner:innen, in denen sich Lernen und gegenseitige Unterstützung abwechseln.
Was empfehlen Sie anderen Lehrenden, die ein ähnliches Konzept umsetzen wollen?
Dr. Sorour: Wie gesagt: Ein gutes Verhältnis der Partner:innen ist die Grundlage für erfolgreiches, motivierendes Lernen im Tandem. Neben den studien- und sprachspezifischen Zielen kann eine Abfrage von Interessen oder Berufsabsichten nach dem Studium dabei helfen, geeignete Partnerschaften zu bilden.
Bevor das Konzept umgesetzt wird, sollten die Vorbedingungen geklärt werden: Wie kann die konkrete studien-fachspezifische Einbindung des digitalen Portfolio-Konzepts von der/den verantwortlichen Lehrenden organisiert werden? Wer steht als Partner zur Verfügung? Welcher Studiengang oder welche Kurse kommen infrage? Welche weiteren Lehrpersonen sind interessiert und/oder haben schon Erfahrung mit alternativen digitalen Lehr-Lernkonzepten? Bei welchen Studierendengruppen gibt es konkrete Bedarfe, die durch das digitale Tandem-Portfolio gedeckt werden könnten?
Auch nach einer Einführung in die Portfolioarbeit kann es vorkommen, dass dies für einige eine Herausforderung darstellt. Viele Studierende, insbesondere in der Gruppe der Geflüchteten, hatten noch nie mit einem Portfolio gearbeitet, zudem war die Software Mahara für viele ungewohnt. Die Vorteile von digitaler Portfolioarbeit im Zusammenhang mit dem Tandem sowie die hohe Relevanz für ihr Studium und für ihren Spracherwerb sollten den Lernenden von Beginn an sehr klar dargelegt werden.
Weiterhin sollen möglichst konkrete, leicht handhabbare und anschauliche Hilfestellungen wie Anleitungen oder Erklärvideos die persönlichen Lernberatungen und das Feedback auf die Portfolios ergänzen.