Von den Vorteilen der videobasierten Falldarstellung für die Analyse und Reflexion von Berufspraxis

Unser Digital Fellow Dr. Mamadou Mbaye von der Universität Leipzig arbeitet in seiner Lehrveranstaltung mit schulpraktischen Fallbeispielen als methodischem Kernelement. Hierzu hat er bisher textbasierte Darstellungsformen verwendet. Die Arbeit mit den Fallbeispielen und deren Verknüpfung zu den theoretischen Grundlagen der Schulpädagogik und Allgemeinen Didaktik fiel den Studierenden bisher jedoch schwer. Die schriftliche Darstellung ermöglicht nur bedingt ein Verständnis von Kontextinformationen wie räumlichen Bedingungen oder Mimik und Gestik der Akteur:innen. Deswegen hat sich unser Digital Fellow entschieden, Videos zur Darstellung der Fallbeispiele bereitzustellen. Diese reichert er zusätzlich über Links noch mit weiteren Informationen und der Möglichkeit zur Annotation der Videos an. So können die Studierenden die Fälle individuell oder kooperativ analysieren und ihre Deutungen an den entsprechenden Stellen der Videos hinterlegen. Eine gemeinsame Diskussion der Ergebnisse im Seminar wird erleichtert. Im Interview erklärt uns Dr. Mamadou Mbaye, wie er bisher vorgegangen ist und welche Erfahrungen er dabei gemacht hat.

Beschreiben Sie uns bitte zunächst kurz, wie ein Hypervideo aussieht. Welche Möglichkeiten haben die Studierenden bei der Nutzung eines Hypervideos?

Dr. Mbaye: Hypervideos sind interaktive Videos: Neben der Arbeit an den Videos durch beispielsweise Annotationen sind auch externe Inhalte wie Texte, andere Videos oder Bilder mit ihnen verknüpft. In unserem Projekt nutzen wir dafür didaktisch aufbereitete Unterrichtsvideos, die mit Hyperlinks versehen sind und mit Transkripten, Kontextinformationen, Arbeitsaufträgen und Reflexionsaufgaben, sowie Handreichungen zur Fallanalyse begleitet werden. Die Videos werden in ein Annotations-Tool eingebettet und für den Einsatz in den Seminaren bereitgestellt. Dadurch steht sowohl allen Lehrenden in unserem Modul als auch den Studierenden ein digitaler Raum zur Verfügung, in dem vielfältige Unterrichtssituationen vor dem Hintergrund wissenschaftlichen und theoretischen Wissens handlungsentlastet beobachtet, analysiert und kritisch reflektiert werden können. Im Unterschied zur Handlung von Lehrpersonen während der direkten Interaktion mit eigenen Schüler:innen bietet eine handlungsentlastete Beobachtung und Analyse die Möglichkeit, Unterrichtssituationen zeitversetzt (also ohne Handlungs- und Entscheidungsdruck) zu betrachten und zu analysieren.

Welche Vorteile bietet Ihnen das Format Hypervideo für die Methode der Fallarbeit?

Dr. Mbaye: Die Verwendung von (Hyper)Videos ermöglicht einen Einblick in die Komplexität des pädagogischen Alltags und eröffnet die Möglichkeit, Lehr-Lern-Situationen handlungsentlastet zu beobachten und zu analysieren. Die Studierenden können bei der Nutzung von Hypervideos nicht nur auf vielfältige, zusätzliche Informationen zugreifen, sondern auch mit anderen Studierenden sowie Lehrenden an Videos zusammenarbeiten und die jeweiligen Deutungen und Lesarten direkt an entsprechenden Stellen des Videos (Zeitmarker) formulieren und zur intersubjektiven Überprüfung zugänglich machen (intersubjektive Nachvollziehbarkeit). Die Annotationsspuren und -marker haben dabei den Vorteil, die unterschiedlichen Perspektiven sichtbar zu machen und auf die Komplexität des Unterrichtsgeschehens aufmerksam zu machen. So lernen die Studierenden, Unterricht differenziert und mehrperspektivisch zu analysieren und zu reflektieren. Anhand videobasierter Fallarbeit können die Studierenden also durch eine gemeinsame Arbeit an den Hypervideos mit- und voneinander lernen und den Fokus jeweils auf verschiedenste unterrichtsrelevante Aspekte der gezeigten Unterrichtssituationen legen. Diese Herangehensweise ermöglicht es den Studierenden, sich von ihren subjektiven Vorstellungen und Erfahrungen von und über Unterricht zu distanzieren und vorschnelle Beurteilungen zu überdenken. Dadurch entwickeln sie einen selbstreflexiven Bezug zwischen Theorie und Praxis und erlernen einen kritisch-reflexiven Umgang mit Schul- und Unterrichtssituationen. Darüber hinaus trägt die Arbeit mit Video-Annotations-Tools zur Förderung digitaler Kompetenz der Studierenden bei. Diese Kompetenz ist nicht nur für ihr weiteres Studium, sondern auch für ihre zukünftige berufliche Tätigkeit als Lehrkräfte von großer Bedeutung.

Wie aufwändig ist die Erstellung der Hypervideos?

Dr. Mbaye: Unter der Mitarbeit der Lehrenden im Modul und von drei studentischen Hilfskräften arbeiten wir schon seit einiger Zeit an der Implementierung der Videofallarbeit in den Seminaren des ersten bildungswissenschaftlichen Moduls. Nach einer längeren Zeit der Vorbereitung sind wir im September 2022 in die Produktionsphase unseres Projekts gestartet. Bei der Erstellung eines Hypervideos gilt es zunächst, passende Videos für die Analyse im Seminar auszuwählen, datenschutzrechtliche Bestimmungen zu beachten, die Videos zu schneiden gegebenenfalls zu transkribieren und in ein Annotations-Tool einzuspeisen, in dem dann noch Annotationsspuren und -marker zur Arbeit an den Fällen sowie notwendige Informationen für die Fallanalyse hinzugefügt werden (z.B. Verlinkungen zu Theoriebezügen usw.). Neben diesen technischen Herausforderungen von Hypervideos ist auch die methodische Umsetzung eine zeitaufwändige Frage: Nach der Erarbeitung eines didaktischen Konzepts (Beschreibung der Analyseschritte zur mehrperspektivischen Fallanalyse und -reflexion und Formulierung von operationalisierten Arbeitsaufträgen in Form von theoriegeleiteten und fallbezogenen Arbeitsfragen) sind wir nun kontinuierlich bemüht, dieses durch kollegiale Hospitationen, Fallbesprechungen und gemeinsame Planungs- und Reflexionssitzungen weiterzuentwickeln und zu optimieren.

Haben Sie bereits Veränderungen in der Qualität der Reflexion der dargestellten Unterrichtssituationen festgestellt?

Dr. Mbaye: Wir konnten in den Seminaren feststellen, dass die aufbereiteten Video-Fallbeispiele für die Studierenden hilfreich waren, um konkrete Bezüge zwischen dem neu erlernten theoretischen Wissen und den Unterrichtssituationen aus dem Praxisalltag herzustellen. Diese theoretischen Bezüge wurden von den Studierenden meist fallnah an konkreten Sequenzen aus den Videobeispielen in Verbindung gebracht. Die Videobeispiele (Hypervideos) erwiesen sich als geeignete Datensätze, um den Studierenden auf multimodale Weise die Komplexität von Unterricht zu verdeutlichen. Diesen Eindruck konnten wir auch in einer ersten Umfrage in den Seminargruppen bestätigen, in der wir die Studierenden um eine Einschätzung zur Arbeit mit Video-Fallbeispielen in der Lehre gebeten haben. Dabei wurde deutlich, dass einige Studierende durch die Arbeit mit den videobasierten Fallbeispielen ihre eigene subjektive Wahrnehmung von Unterricht anfangen zu hinterfragen und lernen, dies anhand von bildungswissenschaftlichen Konzepten und Theorien zu reflektieren.

Welche Rückmeldungen haben Sie von den Studierenden zur Arbeit mit den Hypervideos erhalten?

Dr. Mbaye: Wir haben bei der Evaluation Rückmeldungen von Studierenden bekommen, aus denen hervorgeht, dass sie vor allem den Einsatz von und die eigene Arbeit mit Hypervideos in den Seminaren besonders positiv wahrnehmen. Im Vergleich zu den textbasierten Fällen betonen sie, dass die Videobeispiele sehr gut für die multimodale Analyse von Unterrichtssituationen geeignet sind. Vor allem die realitätsnahe Darstellung haben die Studierenden sehr geschätzt und gegenüber der Arbeit mit den Textbeispielen positiv hervorgehoben. Die Wahrnehmung von Mimik, Gestik und Intonation der handelnden Personen ist von besonderer Bedeutung, um die Sequenzen neben dem Gesprochenen differenziert zu interpretieren. Darüber hinaus erleichtert auch die sichtbare Raum- oder Sitzordnung in den Klassen den Studierenden, das Geschehen besser einzuordnen. Außerdem betonen die Studierenden, dass es sehr hilfreich sei, das neu erlernte komplexe, theoretische Wissen in der pädagogischen Praxis direkt beobachten zu können. Einzelne Studierende geben an, dass sie bereits erste Erkenntnisse für ihre eigene pädagogische Professionalität ziehen können – nämlich dass es wichtig ist, Unterricht aus einer professionellen Distanz zu beobachten und sich als Lehrperson immer wieder selbst im eigenen Handeln kritisch zu reflektieren. Wir haben die Studierenden auch gefragt, inwiefern die Arbeit am Videofallbeispiel ihre Wahrnehmung von Unterricht allgemein verändert hat. Hier antworteten die Studierenden, dass sich die Videos gut geeignet haben, die Perspektive der Lehrperson einzunehmen, sich von eigenen Unterrichtserfahrungen als Schüler:innen zu lösen und auch die Komplexität des Unterrichtshandelns besser wahrzunehmen.

Haben Sie Empfehlungen für andere Lehrende, die ein ähnliches Konzept umsetzen wollen?

Dr. Mbaye: Im ersten bildungswissenschaftlichen Modul ist uns als Dozierenden vermehrt aufgefallen, dass die Studierenden häufig mit bestimmten Voreinstellungen an Fallbeispiele herangehen. Sie neigen dazu, die dargestellten Unterrichtssituationen und das Verhalten der Akteure zu beurteilen und in den ersten Interpretationssitzungen oft normativ-wertende Interpretationen und Lesarten zu formulieren. Diese Tendenz wurde auch direkt bzw. implizit in den Antworten der Studierenden erwähnt. Aus unserer Sicht eignen sich für die Videofallarbeit besonders authentische Szenen, in denen die Studierenden dazu ermutigt werden, sich von ihren allgemeinen, subjektiven Unterrichtsvorstellungen und -erfahrungen zu distanzieren und Unterricht aus einer fallnahen, mikroskopischen und reflexiven Beobachterperspektive heraus zu betrachten. Des Weiteren ist es wichtig, dass Dozierende sich stets die Frage stellen, an welchen Stellen im Seminar sie die Verwendung von digitalen Hypervideos als didaktisch sinnvoll erachten und ob die Videos dazu dienen sollen, die Theorie zu illustrieren oder sie als Werkzeug für das Fallverstehen zu nutzen. Hierzu ist es hilfreich, in einem Entwicklungsteam zu arbeiten und gemeinsam ein konkretes, didaktisches Lehrkonzept ausgehend von eigenen Zielsetzungen zu konzipieren, zu erproben und weiterzuentwickeln. Vor allem bei der Formulierung von theoriegeleiteten und fallbezogenen Arbeitsfragen haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Arbeit innerhalb eines Entwicklungsteams die Qualität der Fragen erhöhen kann. Aus der Zusammenarbeit mit den studentischen Hilfskräften konnten wir im gesamten Prozess die Perspektive der Studierenden mit einbeziehen. Zusätzlich stellt sich die Frage der Verfügbarkeit von digitalen Ressourcen und Kompetenzen. Denn bedacht werden muss auch, dass die Studierenden selbst erst den Umgang mit digitalen Tools zur Videoanalyse einüben müssen. Um sicherzustellen, dass technische Anwendungsprobleme nicht zu Lasten des Lernerfolgs am Ende einer Sitzung gehen, ist es wichtig, Hilfsangebote in Form von Erklärvideos oder Handreichungen zu erstellen. Diese sollen den Studierenden dabei helfen, kompetent mit digitalen Tools und Hypervideos zu arbeiten. Außerdem haben wir den Rückmeldungen von Studierenden entnehmen können, dass die von uns erstellten Unterrichtstranskripte sehr gut für die parallele Analyse der Unterrichtsszene geeignet seien. Darüber hinaus empfiehlt es sich zusätzlich zu den Transkripten auch Untertitel für eine bessere Verständlichkeit während der Beobachtung mit im Video zu integrieren.