E-Testate und digitale Laborbücher – Einsatzmöglichkeiten digitaler Werkzeuge in Laborpraktika und ingenieurwissenschaftlichen Vorlesungsreihen

Gerade in den anwendungsorientierten Lehrveranstaltungen erhöhen die heterogenen Vorkenntnisse der Studierenden einerseits sowie die zunehmenden Digitalisierungsprozesse des Berufsalltags andererseits zunehmend die Notwendigkeit, bisher analog durchgeführte und weit verbreitete Verfahren wie das Laborbuch oder die Testate zu digitalisieren. Diesen Anspruch verfolgen auch unsere Digital Fellows, die wir im aktuellen Interview vorstellen. Prof. Dr. Michael Ziese und Dr. Thomas Schmid von der Universität Leipzig erproben in ihrem Tandem-Fellowship ein Modell für die Realisierung eines digitalen Laborbuches unter Nutzung von Learning-Analytics-Werkzeugen. Dr. Sergey Guk von der TU Bergakademie Freiberg digitalisiert in seinem Fellowship die bisherigen Testate. Wie ihnen der Transfer der analog bereits erfolgreichen Methoden in digitale Umsetzungsformen gelingt, berichten sie im Interview.

Digitalisierung ist seit den pandemiebedingten digitalen und hybriden Semestern natürlich für alle Lehrenden eine Notwendigkeit geworden. In Ihren Fellowships haben Sie jedoch auch andere Argumente für die Digitalisierung in Ihren Lehrveranstaltungen adressiert. Welche waren das und warum haben Sie sich bewusst für die Digitalisierung Ihrer bisher papierbasierten Verfahren entschieden??

Dr. Guk: Die umformtechnischen Lehrveranstaltungen unseres Institutes sind gut besucht und sprechen Studierende höherer Semester an. Aufgrund zunehmender Internationalisierung des Studienganges infolge mehrerer Doppeldiplomabkommen mit ausländischen Partneruniversitäten weisen die Studierenden unterschiedliche Vorkenntnisse auf. Diese Tatsache führt dazu, dass sie bei der Aufnahme des Lehrstoffs diverse Schwierigkeiten sowohl aus sprachlicher Sicht – wie z. B. die unzureichende Beherrschung von Fachvokabular – als auch aus Unklarheit über die Verbindungen zu anderen Teildisziplinen der Werkstoffwissenschaften/Mechanik entstehen. Diese Heterogenität der Lehrgruppe ist hinderlich, wenn es darum geht, die Studierenden zielführend mit Auslegung und Optimierung von Herstellungstechnologien vertraut zu machen. Langfristig erreichen dann die Studierenden ihre Diplomarbeitsphase mit geringeren Fachkenntnissen und können somit die ausgeschriebenen Diplomarbeitsthemen entsprechend des aktuellen Stands der Technik nicht im vollen Umfang bearbeiten. Daher ist eine Kontrolle des Verständnisses vom Lehrstoff in bestimmten regulären Zeitabständen unerlässlich. Diese Kontrolle wurde bis dato anhand papierbasierter Vorgehensweise durchgeführt. Die Durchführung sowie das Einsammeln von Antworten mit deren Überprüfung und abschließender Zusammenstellung der Ergebnisse in einer für die Auswertung passenden Form bereitete immer wieder unterschiedliche Schwierigkeiten wie z. B. eine Deutung unklarer Schriftweise von Studierenden, die leicht abweichende und damit ungleiche Dauer des Testats bei einzelnen Studierenden vor allem in großen Gruppen, hoher Grad an beantragten Einsichtnahmen bzw. eine Auseinandersetzung mit Fällen, wo ein unabsichtliches Vertauschen einzelner abgegebener Zettel in Frage kommt. Somit führt das Ganze zur deutlichen Erhöhung des Bearbeitungsaufwandes nach jedem einzelnen Testat und lenkt den Lehrenden von dessen eigentlichen fachspezifischen Zielen ab.

Prof. Ziese & Dr. Schmid: Ziel unseres Projekts „DiLa“ ist die Digitalisierung der praktischen Grundausbildung im Studiengang Physik mithilfe der web-basierten interaktiven Python-Umgebung „Jupyter Notebook“. Realisiert werden soll dabei sowohl eine didaktische Fortentwicklung der zugehörigen Lehrveranstaltung (Physikalisches Grundpraktikum) mittels eines digitalen Laborbuchs als auch die Etablierung einer neuen Open Educational Ressource (OER) für Physikpraktika an anderen sächsischen Hochschulen. Traditionell wird die experimentelle naturwissenschaftliche Arbeit analog bzw. handschriftlich dokumentiert. Das klassische Mittel zur Protokollierung von Vorgehensweisen, Verfahren und Ergebnissen sind gebundene Laborbücher bzw. -journale, in denen handschriftliche Eintragungen vorgenommen werden und in die Grafiken und anderes gedrucktes Material eingeklebt werden. Das weitverbreitete Einüben dieser traditionellen Vorgehensweise in der Physik-Grundausbildung steht jedoch in deutlichem Gegensatz zur gängigen Praxis moderner physikalischer Forschungsprojekte, in denen bereits die Erhebung von Daten sowie das Protokollieren von Arbeitsabläufen digital erfolgen. Auch bei der professionellen Auswertung solcher Daten sind Computersysteme und Programmiersprachen wie Python unverzichtbare Hilfsmittel. Da Studierende der Physik die dafür erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten bislang jedoch nur vereinzelt und auf freiwilliger Basis erwerben, sollen diese Kompetenzen künftig bereits in der Grundausbildung flächendeckend vermittelt werden.

Inwiefern unterscheidet sich das bisherige analoge Verfahren von der neuen digital gestützten Variante?

Dr. Guk: In den Testaten sollen die Studierenden das in den Vorlesungen angeeignete Wissen anwendungsbezogen einsetzen. Dies geht über das reine Abprüfen von Studierenden nach dem Prinzip Verstehen/Erinnern hinaus. In dieser Hinsicht sieht das neue digital gestützte Verfahren vor, jeder bzw. jedem Studierenden nun mehr als nur einen Versuch zur Beantwortung der gleichen Frage zu geben. Das soll spontane unüberlegte Antworten ausschließen und die Studierenden dazu anregen, die jeweilige Fragestellung innerhalb der zusätzlich gegebenen Zeit zuerst selbstständig besser zu analysieren. Und tatsächlich zeigen die Ergebnisse, dass eine bereits beim zweiten Anlauf beantwortete Frage zur richtigen Erwiderung führt und bei der abschließenden Auswertung des Testats die Studierenden die Gründe für die zuerst falsch ausgewählte erste Antwort korrekt nennen können. Das führt zum besseren Verständnis der in der Vorlesung behandelten komplexen Zusammenhänge, als wenn sie – wie früher beim analogen Verfahren – vom Lehrenden erklärt werden mussten.

Prof. Ziese & Dr. Schmid: Die zentralen Arbeitsschritte des überarbeiteten Laborpraktikums werden in eine komplett digitale Arbeitsweise überführt. Insbesondere werden die Studierenden nicht mit einer Kombination von Einzelwerkzeugen wie der naturwissenschaftlichen Analysesoftware „Origin“ arbeiten, sondern den digitalen Umgang mit physikalischen Daten vollständig mithilfe eines integrierten Softwaresystems erlernen. Auf diese Weise findet eine vollständig digitale Dokumentation und Aufbereitung der Laborarbeit statt. Die digitale Versuchsdokumentation und -auswertung zweier Praktikumstage geht außerdem auch gemeinsam mit deren Präsentation in die Prüfungsleistung der Studierenden ein, das war bislang ebenfalls nicht der Fall.

Welche neuen didaktischen Möglichkeiten ergeben sich für Sie daraus?

Dr. Guk: Eine vollautomatische Auswertung der Testate ermöglicht es den Studierenden sofort ihre Kenntnisse im befragten Themenbereich zu kontrollieren und weist im negativen Fall auf die entsprechenden Schwächen hin. Die vielfältigen Möglichkeiten der Ergebniszusammenstellung in einer für die Auswertung passenden Form gibt dem Lehrenden darüber hinaus Hinweise, welche Themen bei der Gruppe Schwierigkeiten bereiten, sodass der Lehrprozess sensibler auf die tatsächlich mangelnden Schwerpunkte angepasst werden kann. Das Ganze zeichnet sich durch einen hohen Grad an Transparenz und Schnelligkeit in der Durchführung und Bewertung aus.

Prof. Ziese & Dr. Schmid: Im Umgang mit digitalen Werkzeugen bringen angehende Physikerinnen und Physiker meist heterogenes Vorwissen mit. Mit der Neugestaltung der Veranstaltung können wir Studierende hier auf einen gemeinsamen Nenner bringen und besser auf die moderne physikalische Forschung vorbereiten. Die Nutzung von Jupyter-Notebooks und unseres Tools ermöglicht darüber hinaus ein selbstständigeres Lernen der Studierenden im eigenen Tempo.

Inwiefern mussten Sie die bisherigen Verfahren anpassen, damit Sie diese digitalisieren konnten? Mussten Sie auch Abstriche machen?

Dr. Guk: Es bedarf keiner spezifischen Anpassung der bisherigen Verfahren. Im Gegenteil spornte es mich dazu an, immer neuere detailliertere Fragen mit breiter Palette an möglichen Antworten zu kreieren. Nein, es mussten keine Abstriche gemacht werden.
Prof.in Kalies: Die Studierenden werden zum Teil gern an die Hand genommen. Gute Lehre besteht auch in Kommunikation. In Selbstlernphasen ist die Konzentration vieler Studierender nicht uneingeschränkt auf die Lehrinhalte gerichtet. Doch gibt es hier eine große Variationsbreite.

Prof. Ziese & Dr. Schmid: Die Jupyter-Notebooks werden im Sommersemester 2021 im zweiten Grundpraktikum zum Einsatz kommen. Dort werden Versuche zur Wärme- und Elektrizitätslehre an existierenden Experimentierplätzen durchgeführt. Wir haben die Versuchsanleitungen und Aufgabenstellungen durchgesehen und Versuche identifiziert, die mit bisherigen Inhalten in das neue Format überführt werden können, während es bei anderen Versuchen Anpassungen in der Aufgabenstellung geben wird. Wir sehen das nicht als Abstriche, es kommt vielmehr zu einer gewissen Verschiebung der Ausbildungsinhalte, da nun auch Programmieraufgaben in den Vordergrund treten. Der Umstellungsprozess auf neue digitale Arbeitsweisen wird in der Projektlaufzeit sicherlich nicht vollständig vollzogen werden, perspektivisch wird auch noch die digitale Datenaufnahme in die Jupyter-Notebooks integriert werden, so dass Studierende ihre Computer direkt mit den Messgeräten des Praktikums verbinden und Messungen durchführen können, in weiterer Zukunft vielleicht sogar online

Haben Sie bereits Rückmeldungen von Ihren Studierenden zu Ihren digitalen Varianten erhalten? Wie kommen die neuen Möglichkeiten bei den Studierenden an?

Dr. Guk: Ja, wir besprechen die Testate innerhalb der Vorlesungen. Nach Rückmeldungen der Studierenden gab es bereits einige Anpassungen an die Rahmenbedingungen wie z. B. die Anordnung von möglichen Antworten (horizontal bzw. vertikal) oder die für die Beantwortung der Testate maximal mögliche vorgegebene Zeit (die Zeit war zuerst zu kurz gewählt). Die aktuellen Ergebnisse bestätigen, dass die Studierenden technisch sehr gut mit den Testaten klarkommen und vor allem einen großen Spaß an der Selbstkontrolle ihrer fachlichen Kenntnisse nach jeweiligem abgeschlossenen Vorlesungsschwerpunkt haben. Das spornt mich im Gegenzug zum tieferen Abfragen der Kenntnisse und zur Umgestaltung einzelner – wie sich herausstellt – gut bzw. schwer „verständlicher“ Vorlesungsinhalte an.

Prof. Ziese & Dr. Schmid: Wir werden zum Sommersemester mit der Durchführung beginnen und hoffen natürlich, dass die Modernisierung gut ankommt. Derzeit befinden wir uns in der Vorbereitungsphase, das heißt, wie bereiten u.a. Aufgabenstellungen, Hilfskräfte und die Publikation des Softwaretools als OER vor.