Flipped bzw. Inverted Classroom in den Fachbereichen Physik und Architektur

Zwei Schlagworte – ein Szenario: Die Idee des „umgedrehten“ Unterrichts, bei dem die Wissensaneignung in Selbstarbeit zu Hause erfolgt und die gemeinsame Lernzeit für aktives Arbeiten und Üben genutzt wird, kommt sowohl für das Lernen an Schulen als auch für die hochschulische Lehre zum Einsatz. Während im Schulbereich überwiegend von Flipped Classroom gesprochen wird, verwendet man im Hochschulkontext häufiger den Begriff Inverted Classroom. Hinter beiden Schlagworten verbirgt sich jedoch der gleiche Ansatz. Und dennoch ist ein Inverted-Classroom-Konzept nicht gleich dem anderen, wie die Beispiele unserer Digital Fellows zeigen. Dr. Jörg Schnauß von der Universität Leipzig berichtet uns im Interview von seinem Ansatz für die Lehre im Fachbereich Physik und Prof. Dipl.-Ing. Benedikt Schulz und seine Mitarbeiterin Katharina Benjamin von der TU Dresden stellen ihre Umsetzung im Fachbereich Architektur vor.

Wie sieht Ihr Inverted Classroom denn genau aus?

K. Benjamin & Prof. Schulz: An unserer Professur Entwerfen und Konstruieren I im Modul Grundlagen des Entwerfens sieht der Inverted Classroom wie folgt aus: Das zweisemestrige Modul, welches im 1. und 2. Fachsemester im Diplomstudiengang Architektur angeboten wird, besteht aus einem Vorlesungs- und einem Übungsteil. Im Vorlesungsteil werden Grundlagen und Prinzipien einfacher Konstruktionen der architektonischen Elemente – Gründung, Decke, Dach, Treppe, Sockel, Wand, Fenster und Feuerstelle vermittelt. Ausgehend von den Grundlagen der Planerstellung werden dabei Maßordnung, Struktur, Fügung, Form, Material und Gestalt von Konstruktionen sowie grundsätzliche Prinzipien der Lastabtragung gelehrt. Die grundlegende Wissensvermittlung erfolgt über digital bereitgestellte und jederzeit zugängliche Lehrvideos. Jedes Thema wird in sechs Lehrfilmen von maximal sechs Minuten Länge behandelt. Im Übungsteil soll das in der Vorlesung angeeignete Grundlagenwissen angewendet werden, hier zeichnen und konstruieren die Studierenden, betreut und in Kleingruppen, ihr erstes Haus bis zum Detailmaßstab 1:5.

Dr. Schnauß: Ich organisiere das komplette Modul über das Lern-Management-System Moodle. In dem Kurs stelle ich z. B. alle Materialien zur Verfügung, organisiere Seminarinhalte sowie Prüfungstermine. Für den Inverted Classroom stelle ich im Moodlekurs themenspezifische Videosequenzen (zuzüglich komplementärer Tafelbilder & Präsentationen) und begleitende Literatur zur Verfügung. Wöchentlich können die Studierende neue Lernsequenzen freischalten indem sie in einem kurzen Wiederholungstest (Self-Assessment über Moodle Testtool) zu den Inhalten der letzten Sequenz eine entsprechende Mindestpunktzahl erreichen. Zu den eigentlichen Vorlesungen, welche pandemiebedingt jedoch online über BigBlueButton stattfinden, variiere ich den Ablauf je nach den Rahmenbedingungen. Sehe ich anhand der Self-Assessments gewisse Problemfelder, stelle ich diese Inhalte noch einmal in einem kurzen Impulsvortrag vor und überprüfe den Lernerfolg häufig direkt über eine anonyme Liveumfrage mit invote.de. Für die Online-Veranstaltung bieten sich häufig Gruppenarbeiten an, in welchem Forschungsansätze in Bezug auf das Wissen aus den Lernmaterialien gruppenintern diskutiert und das Fazit den anderen Studierenden in einem kurzen Beitrag dargelegt wird. Zur Prüfungsvorbereitung (mündliche Prüfung) stelle ich den Studierenden einen Fragenkatalog zur Verfügung. In der Abschlussveranstaltung finden hierzu Fragerunden statt, welche die Studierenden führen. Jedoch variiere ich den Ablauf jeder Live-Veranstaltung entsprechend der Gegebenheiten und auch die Einbindung der Studierenden in digitale Gruppenseminare findet statt.

Ein zentrales Element des Ansatzes ist die individuelle Wissensaneignung anhand online bereitgestellter Materialien. Wie unterstützen Sie Ihre Studierenden in dieser Phase?

K. Benjamin & Prof. Schulz: Jede Woche stellen wir den Studierenden sechs Lehrvideos zu einem Thema bei OPAL zur Verfügung. Die Lehrfilme haben eine Laufzeit von 3 bis 6 Minuten. Die Aufteilung des Lehrinhalts auf kurze Abschnitte im Videoformat erleichtert den Studierenden die individuelle Wissensaneignung. Zusätzlich bieten wir ein formatives E-Assessment in Form von Selbsttests und einen begleitenden Podcast an.

Dr. Schnauß: Für mich ist es wichtig ein schlüssiges und nachvollziehbares System zur Verfügung zu stellen, welches sicherlich auch Elemente zur extrinsischen Motivation enthält. Neue Inhalte werden so nur zur Verfügung gestellt, wenn ein Self-Assessment zu den vorherigen Inhalten erfolgreich absolviert wurde. Somit werden die Studierenden zur Evaluation ihres Lernerfolges geführt und ich erhalte ein Feedback. Zu den Themen empfehle ich entsprechende Begleitliteratur. Für Nachfragen und Diskussionen steht im Moodlekurs ein Forum zur Verfügung und die Studierenden können mich jederzeit via Email erreichen bzw. Termine vereinbaren. Zudem sehen wir uns wöchentlich im Live-Online-Format.

Und was genau passiert dann in der gemeinsamen Lernzeit? Vor allem, wo Sie aktuell nicht wie üblich Präsenzveranstaltungen hierfür nutzen können?

K. Benjamin & Prof. Schulz: Die Studierenden sind jede Woche aufgerufen, ihre Verständnis-und Vertiefungsfragen zum jeweiligen Thema einzuschicken, welche anschließend in der gemeinsamen Lernzeit beantwortet und diskutiert werden. Aktuell setzen wir zusätzlich auf das Podcastformat, um den Studierenden neben den Lehrvideos und den als Videokonferenz veranstalteten Übungen eine nicht visuelle Form der Beschäftigung mit Architektur und Baukonstruktion zu ermöglichen. So können sie während des Podcasthörens an ihren Übungszeichnungen arbeiten.

Dr. Schnauß: Wenn sich Problemfelder aus den Self-Assessments abzeichnen, gibt es wie erwähnt einen kurzen Impulsvortrag und Live-Umfragen. Meist finden dann in Gruppen themenspezifische Diskussionen zu einem relevanten Thema statt und die Ergebnisse werden den anderen Gruppen im Anschluss präsentiert. Dies gibt mir die Möglichkeit, mich in alle Gruppen einzubringen und die Studierenden müssen größtenteils eigenständig Lösungen erarbeiten die im Anschluss kritisch hinterfragt werden.

Wo sehen Sie erste Veränderungen im Lernprozess? Wie gestaltet sich die studentische Aktivität und Beteiligung?

K. Benjamin & Prof. Schulz: Gerade in Zeiten der Pandemie sind wir sehr zufrieden mit dem Inverted Classroom. Die Studierenden können frei entscheiden, wann und wo sie lernen, da die Lehrvideos rund um die Uhr und von jedem Ort zugänglich sind. Das macht vieles einfacher. Die Studierenden bringen sich aktiv ein und beteiligen sich jede Woche, indem sie die Selbsttests absolvieren sowie Fragen und Feedback einschicken. Zudem können sie das vermittelte Wissen aus den Lehrvideos direkt in der Bearbeitung ihres Übungshauses anwenden.

Dr. Schnauß: Für die Studierenden ist dieses Format neu und vor allem zu Beginn muss man sie zu Diskussionen ermuntern. Auch dass Inhalte vorab eigenständig erarbeitet werden sollen, war für einige zunächst gewöhnungsbedürftig. Leider ist es mir hier auch noch nicht möglich, ein abschließendes Fazit zu ziehen, da pandemiebedingt keine Präsenzlehre möglich war. Ich denke aber, dass dies der Gruppenarbeit und Diskussionskultur zuträglich wäre und die Stärken vom Inverted Classroom deutlich befeuern würde. Die aktiven Studierenden zeigten gute bis sehr gute Prüfungsleistungen. Jedoch nahmen einige Studierende nie an den Live-Formaten teil und eigneten sich das Wissen nur über die Online-Inhalte asynchron an, was in einer deutlich größeren Streuung der Prüfungsleistungen mündete. Durch die fehlende Präsenz hat man hier meines Erachtens nach leider auch weniger Steuerungsmechanismen. Von daher ist mein erstes Fazit optimistisch aber gemischt.